Social Media als Travel-Guide?
Paris, die Stadt der Liebe und die schönste Stadt auf Erden. Oder eher die Stadt der Taschendiebe, der Ratten und des Miefs? Ein Erfahrungsbericht aus zwei Welten.
Aline Reichert (18)
Die Kantonsschule Uster schickt ihre Fünftklässlerinnen und Fünftklässler jeden Sommer in den Fremdsprachenaufenthalt. In den Sommerferien müssen die Schülerinnen und Schüler einen dreiwöchigen Aufenthalt in einem Land mit der Nationalsprache Englisch, Französisch, Spanisch oder Italienisch selbst planen. Von Sprachschulen bis Arbeiten im Ausland ist alles erlaubt.
Für mich ging es also in der letzten Juli-Woche nach Paris in eine Sprachschule. Bevor ich jedoch abgereist bin, habe ich mich über Paris informiert. Ich habe sowohl auf Social Media als auch auf Google recherchiert. Bei meiner Suche habe ich auf sozialen Netzwerken nach «Hidden Gems» (Geheimtipps, die man nicht verpassen sollte) gesucht. Dabei wurden mir die Galerie Lafayette, Montmartre, die besten Fotospots für Bilder vom Eiffelturm und vieles mehr angezeigt. Schon nach einer einzigen Suchanfrage stellte sich «mein» Algorithmus komplett auf Videos zu Paris um.
Mir wurden unzählige Videos angezeigt, in denen die Meinungen zu Paris überraschend gespalten sind. Manche Creators sprechen darüber, wie schön Paris ist. Sie teilen ästhetische Videos von den grossen Touristenattraktionen wie dem Eiffelturm, der Sacré-Cœur und dem Louvre. Andere sind geschockt von Paris. Sie berichten von Taschendiebstählen in der Metro oder in der Nähe von Sehenswürdigkeiten. Einige erzählen sogar, sie seien Ratten begegnet.
Die Realität ist anders
Doch wie habe ich Paris erlebt? Kurz gesagt: Die Videos zeigen Paris entweder von der besten oder der schlechtesten Seite. Sie bilden die Realität nicht ab.
Meine liebsten «Hidden Gems» habe ich durch Google-Recherchen gefunden, nicht durch Social Media. So wurde ich zum Beispiel auf den «Tour Montparnasse» als Alternative zum Eiffelturm aufmerksam. Vom 59. Stockwerk kann man die gesamte Stadt überblicken, und ein klarer Bonuspunkt: Man sieht den Eiffelturm! In der Ferne erkennt man sogar die Sacré-Cœur und den Arc de Triomphe.
Zu den positiven Meinungen auf Social Media kann ich nur sagen, dass mir deren Lieblingsorte nicht besonders gefallen haben. Ab 11 Uhr waren Montmartre und Sacré-Cœur überrannt von Touristen. Ich war überrascht, als ich um 11 Uhr aus dem Musée de Montmartre kam und so viele Leute sah, denn nur zwei Stunden zuvor war ich fast allein in Sacré-Cœur gewesen. Viel schöner fand ich die Gegend um den Jardin du Luxembourg und Saint-Germain-des-Prés. Diese Viertel sind wesentlich ruhiger, und es sind viele Locals unterwegs. Während meines Aufenthalts verbrachte in viel Zeit in diesen Vierteln, die zu meinen Lieblingsorten in Paris gehören!
Neue Gebäude und Urin
Nun zu den negativen Meinungen: Auch diese trafen für mich nicht zu. In der Metro habe ich mich grundsätzlich wohlgefühlt. Klar, ab und zu habe ich ein paar Leute gesehen, die etwas «sketchy» wirkten, aber die sieht man auch in Uster oder Zürich.
Ich habe einfach darauf geachtet, dass meine Wertsachen tief in meiner Umhängetasche verstaut waren. Ich denke, man muss achtsam sein. Vor allem, wenn viele Leute unterwegs sind. Ratten habe ich keine gesehen. Mir wurde aber von Freundinnen und Freunden erzählt, dass sie in der Nähe der Seine und der Galerie Lafayette Ratten gesichtet hatten.
Dafür ist mir persönlich etwas anderes aufgefallen, worüber ich auf Social Media nie etwas gehört habe: Rund um neuere Gebäude stinkt es unglaublich nach Urin! Ich kann mir nicht erklären, warum, aber der Gestank war teilweise unerträglich. Ich war ziemlich geschockt, als ich beim Tour Montparnasse ankam und es dort so roch. Auch ein weiterer Punkt, der auf Social Media nicht gezeigt wird: wie laut Paris wirklich ist. Alle ästhetischen Videos sind mit trendiger Musik unterlegt. Jetzt weiss ich auch, warum. Die Stadt klingt alles andere als ästhetisch.
Mein Fazit: Social Media hat mir kein realistisches Bild von Paris vermittelt. Als Reiseführer eignet sich Social Media überhaupt nicht. Meine Lieblingsorte habe ich durch Google-Recherchen gefunden.
Über Paris kann ich sagen: Es ist eine facettenreiche Stadt. Jeder findet etwas, das einem gefällt. Ich mag es eher ruhig, mit weniger Menschen. Obwohl Paris eine Millionenstadt ist, habe ich viele Orte gefunden, die mir entsprechen. Es lohnt sich also, vorher gut zu recherchieren und nicht von Influencern (ver-)leiten zu lassen.
Bild: Aline Reichert