Selbstverletzung vor laufender Kamera
Die Filterfunktionen auf Tiktok lassen sich einfach umgehen und verwandeln die Plattform in eine Echokammer des Leids.
Ronnie Meier (18)
Auf Tiktok wird Schmerz zunehmend glorifiziert. Mit Hashtags wie #sh, #selfharmmm oder mit Emojis und Codierungen verfremdete Suchbegriffe, werden Schutzfilter des sozialen Netzwerks umgangen. Darum kursieren zehntausende Clips, die Selbstverletzung zeigen, obschon sie offiziell verboten oder zumindest unerwünscht sind.
Dunkle Musik, melancholische Filter, Schnitte am Arm in
15 Sekunden verpackt lindern den Schmerz nicht, sondern stilisieren ihn. In Kommentaren liest man Anerkennendes: «Endlich jemand, der mich versteht» oder «Du bist nicht allein».
Was auf den ersten Blick wie Solidarität wirkt, kann eine toxische Dynamik verstärken. Studien zeigen: Die Sichtbarkeit von Selbstverletzung im Netz kann Nachahmungsverhalten auslösen, besonders bei Jugendlichen mit instabiler Identität oder bestehenden psychischen Problemen.
Tiktoks Algorithmus verschärft das Problem: Wer sich ein solches Video ansieht, bekommt binnen Minuten ähnliche Inhalte vorgeschlagen. Aus einem Moment der Neugier wird eine Echokammer des Leids.
Einige Influencer posten ihre Narben fast täglich, mit steigender Followerzahl. Das erzeugt eine perfide Belohnungsstruktur: Wer mehr zeigt, wird sichtbarer. Die Plattform greift zu spät ein oder gar nicht. Oft versteckt sie sich unter dem Deckmantel der künstlerischen Freiheit.
Ein Lösungsansatz wäre eine algorithmische Gegenerzählung: Inhalte über Bewältigungsstrategien, psychologische Ersthilfe oder echte Recovery-Stories könnten priorisiert werden. Tiktok hat zwar Filter und Warnhinweise eingeführt, doch viele Clips umgehen sie kreativ. Was fehlt, ist echte Aufklärung.
https://arxiv.org/abs/2104.00174?
https://www.jahonline.org/article/S1054-139X%2819%2930243-5/fulltext?
https://www.nature.com/articles/s41598-023-46370-y?
Illustration: Marc Bodmer x freepix.com