Psychische Krankheiten: ein Trend auf Social Media
Content Creators sprechen auf Social Media über ihre Depressionen, Essstörungen und weitere psychische Krankheiten, unter denen sie leiden. Die Enttabuisierung hat aber nicht nur positive Aspekte.
Aline Reichert (18)
Durch den TikTok-Algorithmus werden mir immer wieder Videos vorgeschlagen zu psychischen Krankheiten. Der TikTok-Algorithmus wählt für die User ab und an neue Videos aus, die nicht in ihren persönlichen Algorithmus passen – manchmal weil sie allgemein beliebt sind. Wenn ein solches Video zu Ende geschaut wird, gerät der User schnell in ein «Rabbit-Hole», das heisst, dass er oder sie wird überflutet mit ähnlichen Clips. Irgendwann muss TikTok mir ein Video über psychische Krankheiten vorgeschlagen haben, das ich wohl fertig geschaut habe. Der Algorithmus schaltete auf «mehr».
Aktuell werden mir gelegentlich Edits (Zusammenschnitte) von Filmen und Serien vorgeschlagen, die eine psychische Krankheit thematisieren, Videos von Content Creators und Influencers, die über ihre Erfahrungen sprechen oder auch sogenannte «Docs», die den medizinischen Hintergrund der Krankheit aufzeigen. Teilweise gehen die Videos ins Detail und lösen bei mir Bedenken aus. Ich kann mir gut vorstellen, dass sie vor allem jüngere User stark beeinflussen können.
Über vier Millionen Videos zu Depression
Bei meiner Recherche bin ich über den Hashtag #ed, kurz für «Eating Disorder» (Essstörung), gestolpert. Unter diesem Kürzel habe ich 1,2 Millionen Videos gefunden. Viele der Videos sind Edits aus Filmen. Zum Beispiel wurden mir Zusammenschnitte von der Netflix-Serie «Heartstopper» vorgeschlagen, da die Hauptfigur Charlie an einer Esstörung leidet. Ein Video blieb mir besonders in Erinnerung: Die Creatorin hatte ein «What I eat in a day»-Video gepostet, das heisst, dass sie ihre Mahlzeiten mitgefilmt hat. In der Video-Beschreibung hat sie geschrieben, dass sie lieber sterben würde, als zuzunehmen.
Unter dem Hashtag #Depression habe ich auf TikTok 4,1 Millionen Beiträge gefunden. Wie bei anderen Hashtags wurden mir Edits vorgeschlagen. Diesmal von der Netflix-Serie «Ginny and Georgia», in der die Figur Marcus an Depressionen leidet. Zu diesem Hashtag wurden mir viele Videos von Betroffenen durchgeschaltet, die Teil ihres Alltags in den Videos zeigen. Sie erzählen über Schwierigkeiten und den Wunsch normal am Leben teilnehmen zu können, doch ihre Krankheit macht einen Stricht durch die Rechnung.
Von diesem Hashtag bin ich auf den Hashtag #shcars gestossen. Es ist eine Abkürzung für «Self-Harm-Scars» (Selbstverletzungsnarben). In den rund 3500 Videos zeigen Creators ihre geheilten Narben oder sprechen über ihre Selbstverletzung.
Blockierte Suchbegriffe und Hilfsangebote
Als letztes nahm es mich wunder, welche Videos angezeigt werden, wenn ich nach #suicide suchen würde. Bei diesem Hashtag blockierte TikTok jegliche Videos und schlug stattdessen Ressourcen vor, bei denen ich Hilfe finden kann. Als Anlaufstelle schlägt TikTok die Hotline der Befrienders Worldwide vor. Bei der Befrienders Worldwide handelt es sich um eine internationale Suizidprävention. Anrufe von der Schweiz aus werden nach Belgien weitergeleitet, da die Organisation in der Schweiz keinen Standort hat. Einfacher für Schweizer und Schweizerinnen wäre es bei der Dargebotenen Hand (Nummer 143) anzurufen oder bei der Pro Juventute (Nummer 147).
Als ich auf Instagram die vier oben genannten Hashtags in die Suche eingebe, werden mir jedes Mal Hilfsangebote vorgeschlagen. Eine plausible Erklärung für mich sind unterschiedliche Richtlinien der beiden Social Media Apps bezüglich sensibler Themen. Der TikTok-Algorithmus scheint einzig darauf ausgelegt, die User möglichst lange auf der App zu behalten. Ich kann mir gut vorstellen, dass es als User schwieriger ist, aufhören Videos zu schauen, wenn man in ein solches «Rabbit-Hole» fällt.
Es hat sich etwas getan
Diese Sicherheitsvorkehrungen haben sich in den letzten fünf Jahren stark verändert. Laut einem Artikel von 20min konnten im Jahr 2020 unter dem Hashtag #suicide 270’000 Posts gefunden werden. Drei Jahre zuvor hat sich Angel Schmocker in ihrer Masterarbeit an der Zürcher Hochschule der Künste mit «Sick-Styles» auseinandergesetzt. Schmocker kreierte diese Wortkombination für die Ästhetisierung von psychischem Leid auf Social Media. In einem Artikel des Webportals «Vice» beschreibt sie Aspekte des «Sick-Style»: Zum einen bildet er eine Community, bei der alle gratis mitmachen und ihr Schweigen brechen können. Social Media dient als Plattform für einen Austausch mit anderen Betroffenen. Sie erachtet die Enttabuisierung psychischer Leiden als einen positiven Punkt, da psychische Krankheiten sowohl auf Social Media als auch von weiteren Medien aufgegriffen werden. Auf der anderen Seite beschönigt Angel Schmocker die Risiken nicht. Auf Social Media kann jeder alles teilen, und die Posts sind einfach zugänglich. Sie bergen das Risiko eines Nachahmungseffekts oder für Betroffene, die Gefahr, in alte Muster zurückzufallen.
Zusammenfassend kann es eine Erleichterung für Betroffene sein, ihr Leiden zu teilen und im Austausch mit anderen Betroffenen zu stehen. Jedoch dürfen die Risiken nicht unbeachtet bleiben. Für User können solch verstörende Videos potenziell schädlich sein. Als Fazit kann ich nur sagen, dass es beim «Sick-Style», wie auch bei anderen Themen rund um Social Media, unglaublich wichtig ist, weiterhin Aufklärung in der Gesellschaft zu betreiben, um die Jugend möglichst gut zu leiten und zu unterstützen.
https://www.20min.ch/story/auf-instagram-zeige-ich-dass-ich-krank-bin-658891723373
https://www.hebsorg.ch/artikel/sick-style
Marc Bodmer x freepik.com