Eine Woche ausserhalb der Kanti-Bubble
Die Komfortzone zu verlassen, ist eine Herausforderung. In den meisten Fällen ist sie bereichernd – wie das Beispiel der Politikwoche zeigt.
Aline Reichert (18)
Im Rahmen des Spezialprogrammes der Politikwoche wurden die Sechstklässlerinnen und Sechstklässler der Kantonsschule Uster an den Rand der Gesellschaft geführt. Durch verschiedenste Referate von Fachpersonen, Besuche in Unterstützungseinrichtungen, persönliche Begegnungen und eine Podiumsdiskussion mit Politikerinnen und Politikern konnten die Schülerinnen und Schüler in eine normalerweise gemiedene Parallelwelt eintauchen und sowohl die Schweiz als auch Zürich aus einer neuen Sicht entdecken.
Eindrücke der Schülerinnen und Schüler
Besonders gut kamen die Ausflüge an, die den Schülerinnen und Schülern direkte Einblicke in das Leben am Rand der Gesellschaft boten. So besuchten sie die Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige (K&A) und die Jugendnotschlafstelle Nemo sowie das Restaurant «Blinde Kuh», dessen Innenraum komplett abgedunkelt ist und wo die Bedienung durch Menschen mit einer Sehbehinderung erfolgt.
In der K&A wurden die Schülerinnen und Schüler durch die Räumlichkeiten geführt. Krass war diese Erfahrung: Niemand von den Besuchenden hatte sich zuvor vorgestellt, dass die K&A während der Öffnungszeit vollbesetzt mit Drogenabhängigen ist, die einen sicheren und sauberen Ort zum Konsumieren ihrer Drogen aufsuchen.
Pfarrer Joseph lud die Schülerinnen und Schüler ins Nemo ein und führte sie durch seinen abwechslungsreichen Arbeitsalltag. Er betonte mehrmals, dass alle Jugendlichen herzlich willkommen sind im Nemo. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter tun ihr Bestes, dass sich alle geliebt und gesehen fühlen. Die Herzlichkeit und Offenheit des Nemos berührte die Schülerinnen und Schüler.
Zuversicht trotz Frustration
Organisiert durch die schweizerische Flüchtlingshilfe besuchten vier Flüchtlinge die Kantonsschule Uster. Die Schilderungen ihrer Flucht berührten die Schülerinnen und Schüler tief. Die Flüchtlinge erzählten von den Schicksalsschlägen, die sie zwangen, ihre Heimat zu verlassen. Meine Klasse durfte Elmo Francis kennenlernen. Er musste vor vier Jahren aufgrund politischer Spannung an der Arbeitsstelle seiner Frau mit seiner Familie aus Sri Lanka fliehen. Die Klasse war von seiner positiven und dankbaren Art beeindruckt. Trotz seiner Frustration, dass er in der Schweiz nicht als Banker arbeiten kann wie in seiner Heimat und auch sonst auf dem Arbeitsmarkt stark benachteiligt ist, bleibt er zuversichtlich.
Nadia und ihre Hündin Fame: Das Highlight der Woche
Neben den Flüchtlingen besuchten weitere Betroffene und auch Fachpersonen die Schule, mit denen jede Klasse sprechen konnte. Nadia und ihre Hündin Fame stellten sich als das Highlight der Woche heraus. Die Schülerinnen und Schüler waren überrascht von Nadias offenem Umgang mit ihrer psychischen Erkrankung. Sie wünscht sich, dass man ihr vorurteilsfrei begegnet und ihre Krankheit nicht im Vordergrund stehen sollte. Ihre Hündin unterstützt Nadia beim Umgang mit ihrer Schizophrenie und gibt ihr Sicherheit und Halt in schweren Phasen.
Abschliessende Podiumsdiskussion
Am Freitagmorgen wurde eine rege Podiumsdiskussion mit vier Politikerinnen und Politikern gehalten. Nina Fehr Düsel (SVP), Monika Keller (FDP), Philip Kutter (Die Mitte) und Mattea Meyer (SP) beantworteten kritische Fragen der Schülerinnen und Schüler, Fragen, die während der Woche aufgetaucht waren. Der Austausch mündete zum Teil in hitzige Diskussionen.
Hat die privilegierte und reiche Schweiz einen «Rand der Gesellschaft»?
Diese Frage haben sich Schülerinnen und Schüler Anfang Woche gestellt. In Kontakt mit Randständigen waren die Schülerinnen und Schüler zuvor kaum gekommen. Im Verlauf der Woche wurde schockierend klar: Auch in der Schweiz gibt es Menschen mit lebensgefährdenden Problemen. Diese Personen sind selten sichtbar in der Gesellschaft. Ihre Schicksale, ihr Leid und ihr Elend werden übersehen.
Zusammenfassend finde ich Mattea Meyers (SP) Aussage passend: «Die Sozialpolitik sollte bedürftigen Menschen eine Verschnaufpause gegeben.» Hoffentlich hat die Politikwoche mit all ihren Eindrücken und Erlebnissen die Sicht der Schülerinnen und Schüler nachhaltig verändert und Verständnis gegenüber den Randständigen geweckt. Mir wurde bewusst, wie wichtig die Politik für die Unterstützung solcher Menschen ist. Und es braucht viel mehr Aufklärung darüber, dass Randständige in der Schweiz existieren und unsere Hilfe brauchen. Meiner Meinung nach hat die Kantonsschule Uster mit dieser Woche ein wichtiges Gesellschaftsthema ins Licht gerückt.
Illustration: Marc Bodmer x Perplexity

